Der schmale Grat zwischen Traum und Realität

Manche würden sagen, es ist ein Tag wie jeder andere. Doch welcher Tag ist das schon? Dieser ist es mit Sicherheit nicht, das spüre ich.
Schon seit Stunden sehe ich es kommen. Mit all seiner vernichtenden Macht. Widerstand ist zwecklos. Das Gewitter kam und es kommt näher mit jeder Sekunde. Mit jedem Himmelsleuchten ballt es seine Wolkenberge höher und fester zusammen und errichtet eine uneinnehmbare schwarze Stadt. Furchteinflößend türmt sie ihre kolossalen Mauern über mir auf. Ihre Schatten löschen das Leuchten des Schnees in den Straßen und auf den Dächern um mich herum aus. Ein seltsames Flimmern liegt in der Luft, das jedes lebendige Geräusch zu ersticken scheint. Nach und nach verschlingt die himmlische Stadt die irdische. Nur ein paar Tauben auf dem Kirchendach gurren der Finsternis tapfer ihr Morgenlied entgegen. Langsam wird es immer stiller. Kälte bricht herein. Das Leben verstummt im Angesicht des brodelnden Wolkendaches. Das wenige Licht, das den Erdboden noch erreicht, taucht die Umgebung in ein fahles totes Licht. Schüchtern verkriecht sich jede Seele vor der hereinbrechenden Bedrohung.
Nur noch wenige Menschen sind auf der Straße unterwegs. Sie irren umher wie verwahrloste Schafe, die ihre Herde verloren haben. Ungeschickt schleppen sie ihre vollen Einkaufstüten mit sich herum. Hinter den hell erleuchteten Schaufenstern quellen die Räume über von bunten Artikeln und Menschen, die sich vor den Gewalten der Natur in ihrer kleinen und schrillen Welt zu verstecken suchen.
Eine junge Frau mit einem winzigen Hund stöckelt hastig vor mir durch den rutschigen Schnee. Ich schaue nicht zu ihr hoch, sodass ich lediglich ihre langen schlanken Beine und die roten High-Heels an ihren Füßen sehe. Das genügt mir, denn meistens bereiten mir die Beine der Menschen mehr Freude als ihre Blicke.
Doch in diesem Moment habe ich nur Augen für den Hund, der hinter diesen Beinen her stolpert. Er ist so klein, so verzüchtet, so hässlich, dass er mich beinah an eine Ratte erinnert. Aber gerade dieses beinah künstlich wirkende Wesen bleibt plötzlich schnaufend vor mir stehen. Seine übernatürlich großen Augen blicken hoffnungsvoll und leicht gequält zu mir auf, während seine flache, glänzende Schnauze angestrengt bebt. Ich schaue zurück und spüre, wie mir das Herz aufgeht. Nicht viele würdigen mich eines Blickes, meistens sind es die Tiere, von denen ich die meiste Aufmerksamkeit bekomme, vor allem Tauben. Mit ihnen habe ich sowieso eine Menge gemeinsam. Täglich picken sie emsig ein paar schmutzige Krümel vom Boden auf, ähnlich wie ich. Auch ich muss nehmen, was man mir halbherzig oder gar versehentlich vor die Füße wirft: ein paar rote Cent-Stücke, mitleidige und angewiderte Blicke, den Rotz eines arroganten Jugendlichen, im Winter eine Schippe dreckeigen Schnees von der Straßenkehrmaschine… All das, worauf die Menschen gerne verzichten.
Ich versuche, es wie die Tauben zu tragen – mit Gelassenheit. Doch meistens versage ich kläglich. Wenn der Magen nach Nahrung schreit, die Kehle nach Wasser lechzt und die Seele vor Sehnsucht nach Liebe brennt, dann weiß ich nicht, warum ich noch hier auf dieser Erde bin. Warum alles so gekommen ist. Warum nur ich überlebte. Noch immer, nach all den Jahren, bin ich in jeder Nacht der kleine Junge, der ich einst war, bei meinen Eltern und Geschwistern, dem kleinen Gemüseladen und dann in der Finsternis, im Schrecken von Panzern, Soldaten und Bomben, die alle, alle, die in meinem Herzen waren, erbarmungslos zerfetzten.
Tränen brennen in meinen müden Augen. Dieses Brennen tut auf eine eigenartige Weise gut, denn es zeigt mir, dass ich noch fühle, dass ich noch lebe.
Mit tauben Fingern strecke ich meine schmutzige, vor Kälte zitternde Hand nach dem kleinen Hund vor mir aus, um ihm über sein Fell zu streicheln. Weich schmiegt es sich an meine rauen Finger, während der kleine warme Hundekörper meiner frierenden Hand ein wenig Wärme spendet. Es ist ein wunderbares Gefühl. Auch das Tier scheint diesen Augenblick zu genießen. Mit einem seligen Ausdruck in den Augen schaut es mich an und mir ist, als ob es mich versteht. Doch genau in diesem Augenblick wird der kleine Hund fortgerissen. Die starre Leine zieht ihn von den Füßen, während die Frau mit den roten Schuhen das hilflose Tier unbarmherzig hinter sich her schleift. Seine verzweifelten Augen quellen vor Angst fast aus den Höhlen. Menschen können so grausam sein.
Ein krachendes Donnern lässt mich erschrocken zusammen fahren, begleitet von dem angstvollen Jaulen eines Hundes. Das war er, der erste Kanonenschuss. Das Feuer ist eröffnet. Doch ich bin unbewaffnet.
Ein eisiger Wind reißt mir unvermittelt meinen Hut vom Kopf. Zu spät versuche ich danach zu schnappen. Eine Böe trägt ihn empor und spielt wie zum Spott mit meinem kostbaren Besitz über den Dächern der Häuser.
Voller Sehnsucht schweift mein Blick zu den glänzenden Scheiben der Schaufenster, den Farben, der Wärme, welche die Menschen dahinter einlullt in den Schein der Geborgenheit.
Fröstelnd ziehe ich meinen Mantel enger. Wie oft habe ich nicht versucht, hinter eine dieser Scheiben zu gelangen, um einem Unwetter zu entkommen? Doch jedes Mal werde ich abgewiesen. Die Menschen haben Angst, ich würde sie bestehlen. Sie haben Angst vor mir, sie haben Angst vor allem, was sie nicht kennen. Doch was hätte ich davon, denen zu schaden, die mir helfen? Ich habe gestohlen, ein einziges Mal. Ich war noch ein Kind damals, ein Kind, das Hunger hatte. Nicht diesen Appetit, den man in dieser Gesellschaft als Hunger bezeichnet, sondern dieses furchtbare schwere Loch im Magen, das einem schwarz vor Augen werden lässt. Ich hatte es gewagt, mir ein Brötchen aus der Mülltonne einer Bäckerei zu nehmen. Ich habe es bitter bereuen müssen, als man mich erwischte, ohne Papiere, ohne alles. Nie wieder werde ich stehlen. Was habe ich von ein paar schicken Schuhen oder einem teuren Hemd, wenn ich nicht einmal etwas zum Essen habe? Aber das scheinen die Menschen nicht zu begreifen. Es ist zu fern von ihrer Realität.
Also sitze ich hier fröstelnd in meinem zerfledderten Mantel. Die schäbige Wolldecke, auf der ich sitze, kratzt mich durch den dünnen Stoff meiner Hose. Ich versuche mein Herz mit Gedanken zu erwärmen, während der eisige Wind an meinen verfilzten Haaren zerrt und durch die Löcher meiner lumpigen Kleidung pfeift.
Erste dicke Regentropfen fallen hart auf meinen Kopf. Der Wind hat die Straßen inzwischen leer gefegt. Stattdessen treibt er nun eisigen Regen vor sich her. Schnell werden aus den wenigen Tropfen viele und schon bald peitschen die Böen das teils gefrorene Wasser durch die Gassen. Mit kalten Fingern greift der Regen nach meinem schwachen Körper und ballt seine harte Faust um mein Herz. Immer schwerfälliger pumpt es das zähe Blut durch meinen steifen Körper. Ein verzweifeltes Zittern durchfährt mich, so zaghaft, viel zu schwach. Dieser Kampf ist aussichtlos. Ich habe Angst, dass ich ihn dieses Mal nicht gewinnen werde. Die kalte Mauer in meinem Rücken fühlt sich beinahe warm an. Erschöpft schließe ich die Augen, um mich besser auf das Schlagen meines Herzens und das Arbeiten meiner Lunge konzentrieren zu können. Mein Blick gleitet nach innen, immer weiter. Wieder ein Krachen wie ein erbarmungsloser Schuss aus dem Himmel, ein gleißendes Zucken vor meinen verschlossenen Lidern. Dann ist wieder alles schwarz. Der Wind heult in meinen Ohren als wolle er mich verspotten. Rot. Ich sehe rot. Höre das rote Blut in meinen Adern rauschen. Immer langsamer, immer zäher. Mein Atem wird flach. Mir wird schwarz vor Augen.

Dunkelheit.

Licht.

Ganz unmittelbar. Ich kann es kaum glauben. Gleißendes Sonnenlicht sticht in meine geschlossenen Lider. Ich spüre die Wärme auf meiner Haut. Leichtigkeit breitet sich in meinem Körper aus. Ich lebe! Ich lebe noch! War das alles nur ein schlechter Traum? War das Gewitter nur in meinem Kopf? Es war so real gewesen…
Der süße Duft eines warmen sonnigen Morgens liegt in der Luft, welche einige Tauben auf dem Kirchendach mit ihrem zärtlichen Gurren vibrieren lassen.
Mühsam blinzle ich gegen die Helligkeit der Sonne an. Ihre warmen Strahlen tun meiner wunden Seele gut. Über mir erklingen muntere Stimmen, als ich plötzlich zwei kleine Kinderfüße in hübschen Lederstiefeln neben mir entdecke. Verwundert sehe ich auf und schaue in die großen Augen eines kleinen schwarzhaarigen Mädchens, das mich ein wenig an meine tote Schwester erinnert. Sein Blick ähnelt ein bisschen dem des kleinen Hundes, der vorhin noch vor mir gestanden hatte. Hatte er das überhaupt?
Verwirrt schaue ich mich um. Menschen bummeln entspannt an den Schaufenstern entlang. Noch immer weiß ich nicht, was ich von der Situation halten soll. Und wer ist dieses Kind? Wo sind seine Eltern?
„Hallo“, die zaghafte Stimme des Mädchens lässt meinen Blick zurück zu ihm wandern.
„Hallo“, entgegne ich unsicher. Ich kann mich kaum daran erinnern, wann mich zum letzten Mal jemand Fremdes angesprochen hat und schon gar kein Kind!
Ein vorsichtiges Lächeln huscht über das niedliche Kindergesicht und ich kann nicht anders als zurück zu lächeln. Meine Gesichtsmuskeln fühlen sich dabei ziemlich steif an. Wann hatte ich zum letzten Mal gelächelt?
„Ich bin Shaima, und du?“ Die Frage reißt mich aus meinen Gedanken.
„Mikail“, antworte ich. Ich spüre, wie ein warmes Gefühl meine Brust durchflutete. Wann hatte mich zum letzten Mal jemand nach meinem Namen gefragt, der nicht mit einer Behörde in Verbindung stand?
Gerührt schaue ich wieder in die braunen Kinderaugen, bevor mein Blick erneut die belebte Straße nach den Eltern des Mädchens absucht. Doch noch immer kann ich weit und breit niemanden ausmachen, der Shaima im Auge zu haben scheint.
Mir ist nicht ganz wohl; ein dumpfes Gefühl liegt schwer wie ein Stein in meiner Magengrube. „Wo sind denn deine Eltern?“ Ich spreche mein Unbehagen aus.
Der traurige Ausdruck in Shaimas Augen nimmt mit einem Mal zu. „Daheim“, flüstert sie.
Ich bin äußerst verwundert. Dieser kleine Mensch neben mir ist vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Welche Eltern lassen ihr Kind in diesem Alter ganz alleine durch eine Großstadt wie diese laufen? Und wieso hatten sie Shaima nicht beigebracht, nicht mit fremden Männern zu sprechen? Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Mütter ihren Kindern das einschärften, wenn sie an mir vorbei gingen.
Prüfend blicken mich Shaimas große Augen an. „Du bist auch allein, oder?“, stellt sie nach kurzem Nachdenken fest.
Ja, das stimmt, ich bin allein. Das ist leider ziemlich offensichtlich. Aber warum „auch“? Dieses Mädchen hat doch eine Familie.
Mein kurzes Schweigen scheint die Kleine als Zustimmung zu betrachten. Ohne ein weiteres Wort setzt sie sich neben mich auf den Boden. Ich fühle mich unwohl. Was mögen die Leute denken, wenn sie mich hier mit einem gut gekleideten kleinen Mädchen sitzen sehen? Bestimmt halten sie mich für einen Perversen, einen Kinderschänder.
Die Blicke, die ich zugeworfen bekomme, sprechen Bände und ich weiß wieder, warum ich meistens nur noch die Beine der Leute betrachte.
Doch trotz allem spüre ich ganz tief in meinem Inneren eine kleine Freude pulsieren. Ich liebe Kinder, ihre ungezwungene Art und ihre Lebensfreude. Sie erinnern mich an das Leben, das ich hätte haben können, an all die Hoffnungen und Möglichkeiten, die jedem Menschen in dieser Welt offen stehen sollten, all die, die mir genommen wurden.
Mit einem Mal fängt Shaima an zu reden mit ihrer lieblichen Stimme. Sie erzählt mir von ihrer Familie, von ihren zahlreichen Geschwistern, ihrer Mutter und den schönen Geschichten, die sie erzählen kann, von ihrem Vater, der ihr alles zeigt und erklärt, was sie wissen möchte. Wehmütig denke ich an meine eigene Kindheit zurück, an die glücklichste und schrecklichste Zeit meines Lebens, doch in diesem Moment sehe ich die schönen Momente vor mir.
„Sie sind tot.“
„Was?“ Erschrocken fahre ich aus meinen Gedanken. Woher weiß sie, dass meine Familie tot ist?
Meine Familie ist tot.“ Shaimas Stimme dringt wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Beklommenheit breitet sich in mir aus, schmerzhaft krampft sich mein Herz zusammen und ich schließe die schweren Lider. Vor meinen Augen wird es dunkel.
Da spüre ich sie wieder, den Eisregen, den unbarmherzigen Wind, mein schwaches gequältes Herz. Waren sie doch kein Traum? Das Unwetter scheint mich wieder in seinen grauen Mantel zu hüllen. Doch nun ist mir ganz warm. Das muss die Sonne sein, denke ich völlig benommen. Die einzige, die mein einsames Herz noch wärmt. Und Shaima, sie auch. Leicht spüre ich ihren kleinen Körper an meiner Seite, während ihre süße Stimme in meinen Ohren klingt.
Wie von selbst lösen meine Finger die Knöpfe meines Mantels und schälen meine Arme aus den löchrigen Ärmeln. Angenehmer Wind kühlt meine heißen Arme und meinen warmen Oberkörper.
Gleißendes Licht ist alles, was ich sehe, und ich genieße diesen perfekten Moment als wäre er die Ewigkeit.

 

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