Ein Großstadtleben

Die harte Parkbank

unter ihm,

der Qualm der Abgase

über ihm,

der Lärm der Autos,

Geschrei der Kinder:

Überall.

Er kann nicht mehr schlafen.

Der Alk ist aus,

die Decke gestohlen,

er friert.

Wartet auf den Morgen.

Er kommt.

Kriecht langsam über den Himmel.

Orange, lila, rot,

die Sonne.

Er steht auf,

die alten Knochen

knacken schwach.

Raus aus dem Park,

dem falschen Frieden

aus roten Rosen

und weißen Torbögen.

Raus auf die Straße,

rein ins Leben,

rein ins Verderben.

Vorbei an bunten Shops,

leuchtenden Neonschildern,

lachenden Kindern,

Männern mit Brötchen.

Hin zu der Ecke,

staubig und kalt,

zum Betteln.

Der Magen knurrt,

die Kehle kratzt…

Die Menschen kommen,

warm gekleidet,

mit kaltem Blick,

bloß nicht hinsehen.

Versehentliche Blicke

treffen ihn,

mitleidig, verächtlich,

wie jeden Tag.

Ein Tag wie jeder

war auch dieser:

Hungrig und arm,

kalt und hässlich.

Liebesblicketräumerei

Zum Frühstück gibt es Wolkenfutter aus der Dose,
es schmeckt beinah wie eine Tautropfrose.
Versonnen schau‘ ich in die Habichtschwingenweite,
seh‘ dort ein Kind an der Mauerblumenseite.
Schon streichelt meine Haut ein kleines Wiesenhalmewehen
und eröffnet mir den Blick auf das Gefühlsgeduselsehen.
Ganz leis‘ passiert den Weg ein Erdbeersänftenträger,
die Waren schätzend wie ein Glückjuwelenjäger.
Von fern erklingt ein Lebenshorn
und sät in mir ein Frühlingskorn.
Warm ruhe ich im Sonnenschoß
wie auf Koboldflattermoos.
Denn ich bin Traumgespinsteweber,
ein Lebensschäumegeber.
Probier es aus, es klappt fast immer,
dies bunte Regenbogenhautgeflimmer!

Tiefes endloses Schwarz (1. Kapitel)

Seicht fielen die Strahlen der untergehenden Sonne durch das dichte Geäst des sattgrünen Blätterdachs des Waldes. Sie wärmten das Gefieder der Vögel, die müde ihr Abendlied trällerten, streichelten das Fell der Rehe, die auf der Suche nach einem Schlafplatz umherzogen, und ließen den Wald langsam zur Ruhe kommen. Sie fielen auch durch die großen Glasfenster eines gemütlichen Hauses mitten im Herzen des Waldes und zauberten eine nahezu romantische Stimmung in den Räumen dahinter.
Auch die dort Anwesenden waren angetan von dieser sinnlichen Atmosphäre, doch sie waren auch ein wenig angespannt, denn auf sie wartete etwas noch viel Interessanteres als ein Sonnenuntergang! Es herrschte neugieriges, gespanntes Warten. Wann würde Frau Wila endlich kommen?
Ungeduldige Blicke flogen zu der kleinen Holztür des Gemeinschaftsraumes und warteten gebannt darauf, dass sie sich endlich öffnen würde. Sonst waren Lehrer doch immer so pünktlich! Warum ausgerechnet jetzt nicht?
Das Murmeln im Raum schwoll von Minute zu Minute an, bis mit einem Mal endlich die Türe leise quietschend aufschwang und Frau Wila hereinschritt. Seit bald zwei Jahren unterrichtete sie leidenschaftliche ihre Klasse in Deutsch und Englisch. Direkt auf den Fersen folgte ihr Herr Stein, der vermutlich verschrobenste Geschichtslehrer der Welt. Sofort verstummten alle. Nun war sie endlich da: die Frau, die so gut Geschichten erzählen konnte, wie niemand sonst auf dieser Welt es vermochte.
Bedächtig bahnte sie sich ihren Weg zu einem Tisch und ließ sich langsam darauf nieder, sodass alle sie sehen konnten. Große, neugierige Augen blickten ihr gespannt entgegen und warteten darauf, die ersten Worte von ihren Lippen pflücken zu können.

„Es war einmal eine schöne kleine Stadt am Fuße eines majestätischen Berges. Er war überwuchert von himmelhohen Wäldern, durchfurcht von höllentiefen Klüften und beherrscht von unbändig wilden Tieren. Die Menschen in dem Dorf mieden diesen Berg aus Ehrfurcht vor seinen unberechenbaren Mächten. Lediglich in die Wälder am äußersten Fuß des Berges wagten sie ihre Füße zu setzten, doch auch dies niemals allein. Zu groß war die Furcht vor dem eigenen Tod.
Viel lieber blieben die Menschen innerhalb der starken Mauern, die ihr Dorf vor den dunklen Mächten des Berges beschützten. Doch vor sich selbst und ihrer eigenen Grausamkeit konnten auch diese Mauern sie nicht schützen. Die Menschen waren schlimm zueinander, sehr schlimm. Wenn sie glaubten, jemand habe ein Verbrechen begangen, obwohl sie keinerlei Beweise dafür hatten oder wenn sie glaubten, dass jemand mit den dunklen Mächten im Bunde stehe, wenngleich sie auch das nur mutmaßen konnten, so brachten sie den armen Menschen um, der leider meist zu Unrecht sterben musste.
Eine Frau aus diesem Dorf hieß Faralda. Sie war noch jung, doch für ihr Alter schon sehr weise. Sie wusste viel über die Heilkräfte der Kräuter und wenn jemand vom bösen Geist einer Krankheit geplagt wurde, so kam er zu ihr und ließ sich von ihr heilen. Denn tatsächlich vermochte die junge Frau es, nahezu jeden ihrer Patienten im Reich der Lebenden zu halten. Dafür genoss sie hohes Ansehen im ganzen Dorf.
Eines Tages kam der Priester der Gemeinde zu ihr, um sein Leid über seinen totkranken Freund zu klagen. Faralda war sofort bereit und begleitete den Herrn zu dem Kranken. Sie untersuchte ihn vorsichtig und genau mit all der ihr eigenen Hingabe und musste erkennen, dass der Mann wirklich sehr krank war. Wehmütige berichtete sie dem Priester, dass kaum Hoffnung für seinen Freund bestehe, doch sie werde alles in ihrer Macht stehende tun, um ihn zu heilen.
Der Heilige nahm ihr dieses Versprechen ab und überließ den Kranken ganz ihrer pflegenden Obhut. Mit Salben und Suden versuchte sie verzweifelt, den armen Mann am Leben zu erhalten, doch noch in derselben Nacht schied er dahin ins Reich der Toten, ohne, dass sie es in irgendeiner Weise hätte verhindern können.
Sofort eilte sie zum Haus des Priesters, um ihm den Tod des Freundes zu beklagen. Doch der Priester geriet außer sich, als er diese Nachricht hörte. Er warf ihr vor, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, dass sie jeden heilen würde, aber nicht den besten Freund des heiligen Priesters.
Faralda brach in Tränen aus, denn dieses Urteil war aus tiefstem Unrecht geboren und verletzte sie sehr. Doch der Priester hatte kein Erbarmen. Noch in derselben Nacht ließ er die Wachen kommen und befahl, dass sie des Todes sein sollte.
Da er der Priester des Dorfes war, hatte er die Macht, ein solches Urteil zu sprechen. Faralda flehte um Gnade bei ihm und bei den Wachen, doch ihr Bitten und Schreien traf bloß auf taube Ohren. Sie wurde hinausgeschleppt aus den Toren der Stadt, getreten, geschlagen, verwünscht und verflucht. Man trieb sie voran den dunklen Schatten des schrecklichen Waldes entgegen. Man stieß sie vorwärts, man stieß sie rücksichtslos vom Himmel im Dorf in die Hölle des Waldes, weil ein einzelner Mensch nicht mit dem Tod seines Freundes umzugehen vermochte. Verbitterte Tränen fielen schwer und schwarz auf ihre müden Füße, die sie kaum mehr vorwärts tragen konnten. Doch die Peitschen und Fäuste ließen sie nicht aufhören zu stolpern, immer weiter vorwärts, geradewegs in das weit aufgerissene Maul der Hölle hinein. Nie hätte sie sich erträumt, so grausam sterben zu müssen.
Irgendwann, nach ungezählten Stunden kamen sie an. Sie machten Halt an der Pforte des Todes, um dort anzuklopfen und sie dann blind hineinzustoßen. Man gestattete ihr, ein letztes Gebet zum Herrn zu sprechen, während man das Holz für ihr lebendiges Begräbnis stapelte.
Ihre Augen waren trocken, die Tränen verbraucht, die Stimme versiegt vom Schluchzen, doch im Stillen wandte sie sich an den Herrn und flehte mit ihren Gedanken zu ihm, dass er ihr einen Ausweg zeigen würde, diesem grausamen Schicksal zu entgehen, doch nichts geschah. So warf sie sich in all ihrer Verzweiflung an den gigantischen Stamm einer riesigen Eiche und noch ehe ihr ein letztes Stoßgebet über die ausgetrockneten Lippen kommen konnte, war sie für die Augen aller Anwesenden verschwunden.
Panik breitete sich unter den Wachen aus wie ein Lauffeuer und in dem festen Glauben, ihnen sei soeben eine leibhaftige Hexe entwischt, suchten sie Hals über Kopf das Weite und stürzten sich in die dunklen Tiefen des Waldes, um dort zu duzenden den Tod zu finden. Allein ein einziger tapferer Mann schaffte es zurück ins Dorf, um dort Bericht zu erstatten von den unheimlichen Ereignissen. Und von diesem Tag an traute sich niemand mehr auch nur in die Nähe der Schattenausläufe des Waldes zu treten.“

Fesselnde Stille beherrschte den kleinen Raum. Niemand sagte etwas, niemand schien zu atmen, bis schließlich ein seichtes Lächeln über Frau Wilas Gesicht huschte und den Bann löste.
„Wie ich sehe, hat euch die Geschichte gefallen“, stellte sie zufrieden fest. Die Schüler nickten oder schauten die Lehrerin mit großen Augen an. Sie waren immer noch fasziniert von dem soeben Gehörten.
„Haben Sie sich die Geschichte ausgedacht oder soll sie wirklich so passiert sein“, wollte ein Schüler wissen. Patrick war sein Name und er war die Neugier in Person, weshalb er allerdings auch wirklich ziemlich viel wusste. Manchmal wurde er sogar der „Kleine Einstein der Klasse“ genannt.
Das Lächeln um Frau Wilas Lippen herum wurde ein wenig geheimnisvoller. „Die Geschichte steht in einem alten, staubigen Sagenbuch, das ich neulich auf einem Flohmarkt geschenkt bekommen habe, weil angeblich ein Fluch auf ihm liegt und alle seine Geschichten wahr sein sollen. Die Geschichte, die ich euch soeben erzählt habe, soll sich sogar hier in der Nähe ereignet haben. Deshalb habe ich sie euch erzählt.“
Wieder herrschte für einen kurzen Moment Stille, dieses Mal war sie fast schon ein bisschen gespenstisch. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Nur der Mond warf sein milchiges Licht auf den Wald vor den Fenstern und verzerrte ihn zu unheimlichen Schatten.
Ein wenig ängstlich wanderten einige Blick zum Fenster, darunter aus Kims und Leas. Sie waren sehr gut befreundet und verstanden sich auch mit Patrick ziemlich gut.
„Wollen wir jetzt wirklich noch raus und eine Nachtwanderung machen?“, fragte Lea leise, doch in der Stille des Raumes hallte ihre Frage klar und deutlich wider. Erschrocken zuckte Lea zusammen. Sie war ziemlich schüchtern und ängstlich. Meistens schaffte sie es recht erfolgreich, ihre Schwächen zu verstecken, doch in Situationen wie diesen war sie ihren Gefühlen hoffnungslos ausgeliefert.
„Natürlich gehen wir jetzt noch raus“, antwortete Herr Stein mit einem verschwörerischen Grinsen im Gesicht. „Wofür haben wir euch sonst gerade so schön eingestimmt?“ Er zwinkerte Lea zu, doch die kleinen Sorgenfalten auf Leas Stirn wollten nicht so recht verschwinden. Sanft stieß Kim ihre Freundin in die Rippen. „Sei doch nicht so ein kleiner Angsthase“, sagte sie lächelnd und erntete dafür einen kurzen frustrierten Blick. Mitfühlend legte sie nun doch einen Arm um Leas Schulter. Sie kannte ihre Freundin seit der Grundschule und war mit ihr seitdem durch Dick und Dünn gegangen. Sie wusste also, wann sie eine Schulter zum Anlehnen brauchte. Und die konnte ihr keiner besser geben als Kim. Sie war bisweilen das komplette Gegenteil ihrer Freundin, bekannt für ihre Abenteuerlust und offen für alles und jeden, manchmal jedoch auch etwas zu risikobereit, sodass manches Vorhaben in einem halben Desaster endete. Doch so glichen sich Lea und Kim im Grunde perfekt aus.
„Also dann, packt euch alle schön warm ein und dann machen wir uns auf den Weg“, verkündete Frau Wila.
Murmelnd strömten alle in den Flur, wo sie ihre Jacken und Schuhe zusammen klaubten. Kurz darauf standen alle bereit, gestiefelt und gespornt, bereit für das nächtliche Abenteuer.
„Heute Nacht werdet ihr eine kleine, aber sicherlich unvergessliche Reise durch diesen Wald dort draußen erleben dürfen“, begann Frau Wila feierlich und geheimnisvoll. „In kleinen Gruppen werdet ihr einige Aufgaben zu lösen haben. Einige sind witzig, andere wiederum kniffelig, manche vielleicht sogar ein wenig unheimlich, doch vergesst nie, ihr seid in eurer Gruppe, die im Notfall auf euch aufpasst, genauso wie ihr auf sie. Euch wird nichts passieren. Ihr bekommt alle eine Karte von dieser Gegend, die Stationen sind darauf eingezeichnet, an zwei dieser Stationen werden Herr Stein, bzw. ich auf euch warten. Außerdem werden wir euch einen Kompass geben, damit ihr euch trotz Karte auf keinen Fall verlaufen könnt. Alles klar soweit?“
Und ob alles klar war! Bis auf eine Sache… „Befinden wir uns eigentlich genau in diesem verwunschenen Wald aus der Sage, in dem die Frau verschwunden sein soll?“
Alle starrten Patrick an. Alle hatten es gedacht, doch nur er hatte die Ungewissheit ausgesprochen.
Aber Frau Wila lächelte beschwichtigend. „Das kann ich euch nicht sagen, es ist schließlich eine Sage, auch wenn sie angeblich wahr sein soll, allerdings ist seit Jahren niemand mehr in diesem Wald verschwunden. Ihr müsst euch also keine Sorgen machen!“
Ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Runde. Keiner der Anwesenden glaubte ernsthaft an Sagen, Geistergeschichten oder Ähnliches, doch die Stimmung, die Frau Wila durch ihre Geschichte herauf beschworen hatte und die der Mond in die Nacht zauberte, war doch sehr geheimnisvoll und in manchen Momenten schien alles möglich zu sein…
Nachdem jede Gruppe eine Karte, einen Kompass, eine große Taschenlampe und einen Aufgabenzettel erhalten hatte, ging es los. Voller gespannter Erwartung strömten die Schüler ins Freie und schon innerhalb weniger Minuten hatte sich der Vorplatz der Hütte vollkommen geleert.
In einer Dreiergruppe strolchten Lea, Kim und Patrick durch die Dunkelheit des Waldes. Patrick ging als echter Gentleman mit der Taschenlampe voran und leuchtete den Weg, Lea und Kim stolperten mit dem Rest ihrer Ausstattung hinterher. Immer wieder warf Kim Patrick von hinten ein paar sehnsüchtige Blicke zu. Wie gut er doch aussah, wie klug er war und wie er einfach so unbeirrt vor ihnen herging und ihnen den Weg bahnte… Lea bemerkte Kims Blicke und grinste ihre Freundin verschwörerisch von der Seite an. Seit bald schon einem Jahr schwärmte Kim für Patrick wie noch nie zuvor für einen anderen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihm zusammen zu sein, doch wenn es um Patrick ging, verpuffte all ihr Mut zu einem kleinen Staubwölkchen. Sie traute sich einfach nicht, ihm ihre Gefühle zu gestehen…
Lea riss Kim aus ihren rosaroten Gedanken: „Wir hätten doch auf dem Weg bleiben sollen, wir kommen kaum voran“, seufzte sie.
„Aber wenn wir hier quer durch gehen, sind wir doppelt so schnell wie die anderen! Vergiss das nicht!“, rief Patrick.
Kim verdrehte die Augen. „Ja, das dachte ich auch, aber so dicht wie das Unterholz hier ist sind wir bestimmt erst im Morgengrauen da! Ich hasse dieses Brombeergestrüpp!“
„Na jetzt übertreibst du aber!“, wiedersprach Patrick amüsiert. „Außerdem konnten wir ja nicht ahnen, dass der Wald hier so unwegsam ist…“
Nun ja, da hatte er natürlich Recht, doch das half jetzt auch niemandem.
Eine Weile kämpften sich die drei stumm vorwärts. Laub raschelte zwischen ihren Füßen, Äste knackten unter ihren Schuhsolen und Sträucher zerrissen zwischen ihren Hosenbeinen oder umgekehrt. Ansonsten war nichts zu hören. Die Stille war schon fast gespenstisch. Hin und wieder raschelte es in ihrer Nähe im Unterholz, in der Ferne schrie wehleidig ein Uhu in die schwarze Nacht.
„Seid ihr sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Lea vorsichtig. Kim und Patrick sahen sich suchend um. Nichts konnten sie sehen, außer Schwärze und den langen, unheimlichen Schatten der Bäume, die vom Licht der Taschenlampe unheimlich verzerrt wurden. Zögernd blieben die drei stehen. Mit einem Schlag wurde es gespenstisch still.
„Du hast doch den Kompass Kim, gehen wir noch in die richtige Richtung?“, wollte Patrick wissen.
Kim kramte in ihrer Tasche und zog den Kompass hervor, Patrick richtete sofort den Stahl der Taschenlampe darauf. „Wir gehen in Richtung Norden. Ja, das müsste stimmen.“
„Was soll das heißen, das müsste stimmen?“ Leas Stimme war schon fast ein bisschen hysterisch.
„Ganz ruhig, Lea. Wir sind auf dem richtigen Weg“, beschwichtigte Kim sie. In Leas Blick lagen immer noch Zweifel, aber sie sagte nichts mehr.
Ein anklagendes Heulen durchschnitt die Ruhe um sie herum. „Sind das Wölfe?“, hauchte Kim. Nun wurde ihr die ganze Angelegenheit doch auch ein wenig unheimlich. Patrick versuchte stark zu bleiben und den beiden Mädchen Zuversicht zu geben, doch seine Stimme war auch ein wenig brüchig als er antwortete: „Ach so ein Quatsch! Dann hätten uns die Lehrer ganz bestimmt nicht hier raus gelassen.“
Da hatte er wohl Recht. „Aber was ist, wenn sie das selbst gar nicht wussten, dass es hier Wölfe gibt?“ Leas piepsige Worte waren mehr gehaucht als gesprochen. Sie war völlig am Ende.
Ein Rascheln zu ihrer Linken ließ sie alle zusammenfahren. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie in die Dunkelheit. „Patrick! Leuchte dahin!“, flüsterte Kim. Im selben Moment spürte sie wie sich Leas Fingernägel in ihrem Arm bohrten.
Zögernd hob Patrick die Taschenlampe und erleuchtete die Dunkelheit. Nur Bäume und Sträucher fielen in den Lichtkegel, sonst nichts. Leas Fingernägel ließen etwas locker und auch die anderen beiden entspannten sich ein wenig, blieben jedoch misstrauisch.
„Lasst uns so schnell wie möglich hier verschwinden und wieder auf einen Weg kommen!“, befahl Patrick. Das war allen nur Recht. Eilig zogen sie weiter, dieses Mal um einiges hektischer als zuvor.
Es waren nur wenige Minuten gewesen, doch es kam ihnen allen vor wie Stunden, bis sie endlich den festen Boden eines Weges unter ihren Füßen spürten.
„So, in welche Richtung müssen wir jetzt?“, fragte Patrick. Mit immer noch zitternden Fingern faltete Lea die Karte auseinander. Drei Augenpaare huschten irritiert über das Blatt Papier in ihren Händen. „Wir befinden uns in einer 90°- Kurve…“, stelle Patrick fest, „…aber auf der Karte gibt es keine 90°-Kurve…“, vollendete Kim mit stockender Stimme.
Lea stiegen die Tränen in die Augen und ihre zitternden Hände ließen die Karte zu Boden segeln. „Wo sind wir? Warum ist dieser Weg nicht auf der Karte? Was machen wir jetzt?“
Patrick bückte sich geistesgegenwärtig nach der Karte, bevor der Wind sie davon tragen konnte, doch dann blieb auch er ratlos stehen und sah von Lea zu Kim, die ebenfalls ziemlich blass aussah.
„Wer weiß, wo wir hier sind?!“, rief Kim in einem Anflug von Verzweiflung. „Wir müssen weiter gehen, aber welche Richtung ist richtig? Nicht, dass wir uns noch weiter von der Hütte entfernen.“
„He!“ Patrick erwachte zu neuem Leben. „Wir haben doch den Kompass! Lasst uns einfach zurückgehen nach Süden zu unserer Hütte, dann machen wir nichts falsch!“
„Du willst da wirklich nochmal durch?“ Lea blickte ängstlich über ihre Schulter in den Wald hinein von wo sie gerade gekommen waren.
„Das ist besser als jetzt wahllos einen Weg zu nehmen und nachher ganz verloren zu sein“, stimmte Kim Patrick zu.
Lea seufzte und ließ den Kopf hängen. „Wir haben ja die Gruppe, oder? So haben die Lehrer es uns gesagt. Aber jetzt sind wir alle in der Gruppe am Ende…“
Tröstend legte Kim einen Arm um ihre Freundin. „Wir sind nicht am Ende. Wir haben immerhin noch einen Weg und der wird uns zurückführen, ganz sicher.“
Mit diesen Worten griff sie in ihre Tasche, um den Kompass herauszuholen, wühlte eine Weile in der Tasche herum, wurde immer hektischer, zog ihre Hand heraus und durchsuchte ihre anderen Taschen. „Hast einer von euch den Kompass?“, fragte sie panisch.
Patrick starrte sie ungläubig an. „Nein, du hattest ihn die ganze Zeit!“
Mit unkontrollierten Bewegungen rasten Kims Hände erneut durch all ihre Taschen, doch den Kompass bekamen sie nicht zu greifen.
„Sag nicht, du hast ihn verloren!“, Patricks Stimme war hart, aber man hörte die Verzweiflung dahinter.
„Nein, das kann nicht sein!“, keuchte Kim.
Nun begannen alle drei ihre Taschen wild zu durchsuchen.
„Oh nein! Ich hab ihn tatsächlich!“ Patrick stöhnte auf. „Es tut mir leid. Ich hab ihn.“
Erleichtert zog er ihn aus seiner Tasche und warf einen Blick darauf, doch sofort erstarrte sein Gesicht in Entsetzen. „Was? Was ist?“, Kim trat näher an Patrick heran und schleifte Lea dabei mit. Kaum sahen beide den Kompass weiteten sich ihre Augen ungläubig und panisch.
Patrick hob langsam den Kopf und sah Kim und Lea an, die ihn wiederum entgeistert anstarrten. In allen ihren Blicken lag die blanke Panik. „Was geht hier vor sich?“, die Worte kratzten, als sie aus Patricks Kehle kamen und der Ausdruck in seinen Augen war von so tiefer Furcht geprägt, dass er Kim und Lea noch mehr Angst einflößte, doch ihre Blicke waren genauso leer vor Entsetzen.
Die ganze Zeit über waren sie nach Norden gegangen und dorthin hatte die Kompassnadel gezeigt. Doch nun pendelte sie orientierungslos im Kreis herum, zeigte in alle Himmelsrichtungen. Am häufigsten jedoch nach Süden, die Richtung, aus der sie gekommen waren.
„Das kann nicht sein… Das KANN NICHT SEIN!“, Patrick brüllte es fast in die Nacht! „Nie geht eine Kompassnadel FALSCH! Und NIE dreht sie sich in alle Richtungen GLEICHZEITIG! NIE! Das wiederspricht den physikalischen Gesetzten dieser Erde! Das müsste heißen, dass die Erde umgepolt wird, aber das wird sie ganz sicher nicht! Das wird noch tausende von Jahren dauern, wenn es überhaupt geschieht!“
Lea und Kim sahen ihren Freund mit weit aufgerissenen Augen an. „Die Erde polt sich um?“, fragte Kim verdattert.
„Jaaa, das ist so eine Theorie, dass das irgendwann passiert und dass es früher schon passiert ist. Aber das ist doch jetzt egal! Hier geht irgendetwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu…“
Kim und Lea warfen sich vielsagende Blicke zu. Vielleicht wäre es ihnen lieber gewesen, die Erde hätte sich jetzt umgepolt, dann hätten sie wenigstens den Grund dafür gewusst, warum ihr Kompass so verrückt spielte.
„Am besten gehen wir jetzt einfach so schnell wie möglich den Weg zurück, den wir gekommen sind, ganz ohne Kompass, okay? Und dann vergessen wir den ganzen Spuk hier“, schlug Kim in dem Versuch vor, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen.
Patrick und Lea nickten zustimmend. Das war wohl wirklich das Beste!
Also drehten sie sich um und machten sich auf den Rückweg. „Jetzt haben wir noch keine einzige Aufgabe gelöst und die anderen sind vermutlich schon fast fertig!“, bemerkte Patrick, um die Stimmung ein wenig aufzulockern.
„Weißt du, wie egal mir das gerade ist?“, entgegnete Kim.
„Hauptsache wir kommen möglich bald wieder an der Hütte an!“, pflichtete Lea ihr bei.
Patrick nickte. „Ja, ihr habt Recht. Mir ist die Lust an diesem Abenteuer auch vergangen!“
So gingen sie schweigend eine Weile weiter, bis Kim vorschlug, noch einmal einen Blick auf den Kompass zu werfen. Doch der Anblick, der sich ihnen nun bot, war nicht besser als zuvor. Vielleicht sogar noch schlimmer. Die Nadel zeigte wie auf dem Hinweg exakt in die Richtung, in die sie gingen, doch das war nun Süden!
„Das Ding ist kaputt!“, rief Lea.
Nun waren auch Kim und Patrick wieder erstarrt. „Ein Kompass kann nicht kaputt sein“, bemerkte Patrick verzweifelt nüchtern.
„Wenn er jetzt nach Westen oder Osten zeigen würde, würde ich ihm ja sogar noch glauben, dass wir etwas vom Weg abgekommen sind, aber nicht, dass wir in die komplett falsche Richtung gehen!“, rief Kim.
Patrick nickte. „Genau das habe ich auch gerade gedacht…“
„Kommt, lasst uns einfach weiter gehen. So falsch können wir nicht sein!“, schlug Kim vor und die drei setzten sich zögernd wieder in Bewegung, den Kompass ließen sie nicht aus den Augen. Doch auch als sie weiter gingen, setzte sich ihr Weg laut diesem immer weiter Richtung Norden fort.
Schließlich blieb Lea entschlossen stehen. „Wisst ihr was? Ich traue gerade weder dem Kompass noch unserem Orientierungssinn. Lasst uns jemanden anrufen und um Hilfe bitten!“ Patrick und Kim waren überrascht von Leas plötzlicher Standfestigkeit, doch die Idee war natürlich gut und sie hätten wirklich schon früher darauf kommen können. Wäre da nicht ein Problem gewesen. „Habt ihr Netz?“, fragte Lea hoffnungsvoll. Kim und Patrick schauten auf ihre Displays und schüttelten ergeben die Köpfe.
Also gingen sie weiter. Angst lähmte ihre Schritte, doch die Hoffnung, bald wieder die Hütte vor Augen zu haben, gab ihnen die Kraft, weiter zu laufen.
Mit einem Mal blieb Kim stehen und ihre beiden Freunde taten es ihr gleich. „He! Seht mal, dort vorne!“
Alle drei schauten neugierig zwischen den dunklen Schatten der Stämme hindurch. Direkt vor ihnen in etwa 300 Metern Entfernung konnten sie ein schwaches grünliches Licht erkennen.
Halb furchtvoll, halb fasziniert bewegten sie sich langsam darauf zu.
„Ist das endlich die Hütte?“, sprach Patrick die hoffnungsvolle Frag aus, die allen durch den Kopf ging.
„Seit wann haben wir dort grünes Licht?“, entgegnete Kim verunsichert.
Abrupt blieben sie wieder stehen. „Wollen wir da wirklich hin? Lasst uns doch einfach zu unserer Hütte gehen!“, bat Lea.
„Doch wo ist sie?“, fragte Kim. „Lasst uns doch nur kurz schauen, was dort vorne ist. Dann können wir weiter gehen.
„Ich weiß nicht.“ Auch Patrick zögerte. „Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.“
„Ach kommt! Was soll da denn großartig sein?“, frage Kim herausfordernd. „Vermutlich sind es bloß ein paar Camper, die ihr Licht in ihrem grünen Zelt angelassen haben. Vielleicht können sie uns helfen!“ Schon während sie diese Worte aussprach, wurde ihr klar, wie absurd es war, mitten im Wald zu campen. Doch sie ging tapfer ein paar Schritte weiter und blieb dann wie angewurzelt stehen.
„Was ist da?“, riefen Lea und Patrick fast gleichzeitig und voller Sorge.
Als Kim nicht antwortete, rannten sie zu ihr und erstarrten ebenfalls. Der Anblick, der sich ihnen dort bot, war überwältigend. Direkt vor ihnen ragte eine gigantische Eiche auf, so gewaltig wie keiner von ihnen sie je gesehen hatte. Sie musste schon viele hundert Jahre alt sein. In einem hellen grünen Licht schien sie aus sich heraus zu leuchten wie die alte geheimnisvolle Laterne eines Riesen.
„Was zur Hölle ist das?“, hauchte Patrick.
„Ich habe keine Ahnung“, flüsterte Kim.
Lea vergrub nur wieder ihre Finger in Kims Arm. Alle drei dachten an Frau Wilas Geschichte, doch niemand traute sich diesen Gedanken auszusprechen. Patrick hob langsam den Kompass, sodass alle ihn sehen konnten. Die Nadel deutete direkt auf den riesigen Baum vor ihren Augen.
„Das ist faszinierend…“, begann Patrick, „…und ziemlich unheimlich“, bemerkte Lea.
„Kommt, lasst uns mal näher herangehen. Was soll uns schon passieren?“, sagte Kim und lief noch ein paar Schritte vor, ohne die Antworten ihrer Freunde abzuwarten.
„Sei vorsichtig!“, rief Lea ihr noch leise hinterher, doch das konnte Kim schon fast nicht mehr hören.
„Warum muss sie immer so waghalsig sein?“, piepste Lea in Patricks Ohr, während wie sich nun an seinem Arm festkrallte.
Kim stand nun direkt vor dem massigen Stamm, legte den Kopf in den Nacken und schaute ehrfurchtsvoll an der furchigen Rinde empor. Das Blätterdach der Eiche schien fast so weit weg zu sein wie der Himmel selbst. Dass so ein gigantischer Baum noch niemandem aufgefallen war… Man hätte ein Museumsstück draus machen können. Das würden die Leute bestimmt tun, wenn sie von so einem Baum wüssten. Doch wie konnte ein Baum überhaupt derartig groß werden? Irgendetwas ging hier definitiv nicht mit rechten Dingen zu.
Mit einem krampfartigen Gefühl im Magen schlich Kim um den Stamm herum. Plötzlich fiel ihr etwas Merkwürdiges auf. Um den gesamten Stamm herum rankte sich ein enger Kreis aus kleinen und großen Pilzen und innerhalb dieses Kreises… ja, da lagen tatsächlich Gegenstände!
Kim traute ihren Augen nicht. War das dort eine hölzerne Haarspange?
Langsam ging sie in die Knie und streckte die Hand danach aus. Die Spange war wunderschön! Aufwändig verschnörkelt mit einem Blumenmuster…
Ehrfurchtsvoll berührten Kims Fingerspitzen die Oberfläche der Spange, da spürte sie plötzlich ein starkes Ziehen im Arm. Erschrocken wollte sie die Hand zurückziehen, doch sie konnte ihren Arm nicht mehr bewegen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen breitete sich das Ziehen in ihrem ganzen Körper aus, schien sie beinahe zu zerreißen. Sie merke, wie sie das Gleichgewicht verlor und vornüberkippte und fiel. Der Waldboden, die Haarspange, der Baumstamm, alles verschwand aus ihrem Blickfeld und sie fiel in ein tiefes, endloses Schwarz.

Prolog

Sie stand da, abgrundtiefer Schrecken lag in ihren Augen, als diese voller Panik umherhuschten, unruhig, geschunden, verzweifelt. Die Bäume, dieser undurchdringliche Wald … tiefe, lange Schatten, dunkel und bedrohlich. Stunden waren sie hindurch gewandert. Stechende und pochende Schmerzen, dumpfe, unaussprechliche Qualen hatte sie empfunden. Schläge und Tritte, Verwünschungen und Flüche hatten sich in sie hineingebohrt wie eiserne Speere.
Nun stand sie hier, inmitten dieser Hölle aus Schatten und Grausamkeit. Neben ihr die Männer, diese grausamen Kreaturen, Sklaven des Todes. Sie stapelten das Holz voll todbringender Ruhe.

Grün, gigantisch, Königin der Wälder. Sie streckte sich gen Himmel, versuchte den Schatten zu entkommen, mit ihrer tränenfeuchten Krone: Die bemooste Eiche, alt und stark, traurig und weich von den Morden unter ihrem Dach.
Das gestapelte Holz stand bereit, man wartete auf sie, nur auf sie, die da stand und verzweifelt versuchte, noch einmal einen Teil der Welt zu erfassen, bevor die Flammen sie verzehren würden, mitsamt ihrer traurigen Unschuld.
Ein Gebet, ein letztes Gebet bei der  Eiche, sie würde weinen für sie. Sie kniete nieder, vor der Eiche, ihre Lippen stammelten ein letztes stummes Gebet in die Stille des rauschenden Waldes hinein. Nur fort… oh Herr, nur fort…

Dimensionslos

Es war eine dieser kühlen, sternenklaren Nächte, in denen sich jeder Atemzug anfühlt wie eine reinigende Katharsis. Ein Blick in die Sterne schien einem den Sinn und Rhythmus des Lebens mit all seinen Geheimnissen zu offenbaren und gleichzeitig in den unergründlichen Tiefen des schwarzen Firmaments bis in alle Ewigkeit zu verheimlichen.
Jays Körper versank in der tiefen Wärme des Grases, während sein Geist sich in der denkbaren Unendlichkeit des Universums verlor. Der Versuch, die schier endlose Menge der Sonnen und sie umkreisenden Planeten zu erfassen, sprengte beinahe seinen Verstand. In welch gigantischen Dimensionen der Mensch bereits denken konnte und in welch winzigen zugleich. Vom Atom zum Universum – dazwischen war alles möglich, vielleicht sogar darüber hinaus. Möglicher Weise beherbergte jedes Atom ein eigenes Sonnensystem. Was für eine Vorstellung, dass jeder Mensch Millionen von Universen in sich beherbergen würde! Alles drehte sich um das Sein und innerhalb des Seins drehte sich alles umeinander: Elektronen um Protonen und Neutronen, Planeten um Sonnen, Galaxien um ihre Zentren und manchmal drehte sich in dieser Welt auch alles um einen Menschen. Die Drehbewegung schien die natürlichste aller Bewegungen zu sein, die Kugel die ursprünglichste Form.

Jay räkelte sich. Sein Blick schweifte langsam vom Mars über ein paar Sterne hin zu den Lichtern auf den Berggipfeln, die wie tief stehende Sterne auf dem in der Schwärze der Nacht unsichtbaren Gebirge thronten. Aus den Häusern zu seinem Fuße blickten die meisten Fenster bereits mit schwarzem Blick in die Nacht hinaus. Es war spät geworden.
Jay rappelte sich behutsam auf, um das soeben erlangte Gefühl der Erdung und Erleuchtung in seinem Inneren zu bewahren. Tief sog er die kristallklare Luft der Nacht in seine Lunge ein, bevor er seinen Heimweg antrat. Unterwegs traf er auf ein paar wilde Kaninchen und einen genüsslich schmatzenden Igel, der sich während seines deftigen Nachtmahls offenbar von nichts und niemandem stören lassen wollte. Ein scheues Schmunzeln huschte über Jays Gesicht. Ein Schatten dessen lag noch auf seinen Lippen, als er die Ausläufer des Dorfes erreichte. Stille, durchwebt von dem zaghaften Ruf eines Uhus, lag sanft über den Dächern der Häuser und füllte die schmalen Gassen zwischen ihnen. Jay trat ein in ihr Gewirr, jenes Durcheinander innerhalb seiner Welt, das er vermutlich am besten beherrschte. Es war beruhigend wie sicher seine Beine ihn hindurch trugen, geradewegs zu seiner Haustür. Ein goldenes Licht strahlte von ihr her, welches jeden dazu einzuladen schien, sich hier niederzulassen. Doch niemand im ganzen Dorf folgte mehr einer Einladung dieses Hauses. So war Jay der einzige, auf den diese Türe tatsächlich wartete. Er selbst war es gewesen, der dieses Willkommenslicht entflammt hatte, um sich selbst die Heimkehr zu erleichtern.

Leise klickte der Schlüssel im Schloss und gab Jay den Weg frei. Er trat ein über die Schwelle des Lichts, hinein in die Schatten, die dahinter lauerten. Ein grunzendes, hässliches Schnarchen aus dem Wohnzimmer drang an Jays Ohr. Sehnsüchtig blickte er zurück zur Haustür, doch er konnte nicht zurück, er konnte nicht fliehen. Er war ein Gefangener dieses Hauses, ein Gefangener seines eigenen Vaters. Sein Käfig war gebaut aus Hass, Liebe, Verantwortungsgefühl und Hilflosigkeit. Er war erst 15, sein Vater 43, doch es kam Jay vor als seien ihre Rollen vertauscht. Er selbst war der Vater seines viel zu alten, alkoholbesessenen Sohnes. Die Macht die er hatte, war jedoch die des ausgelieferten Sohnes.

An Abenden wie diesen gelang Jay manchmal die Flucht in die Natur. Eine Rauchwolke in seiner so oft nach Atem ringenden Lunge ließ ihn Erfüllung finden, trug ihn davon, für wenige Momente, in eine andere Welt, in der er nach dem Sinn des Lebens, dem Grund seines Daseins forschte. Dann spürte er die Unendlichkeit und den Frieden dieser Welt, war erfüllt davon und geborgen in der Weite und Verlässlichkeit des Kosmos‘. Doch die Zeit der Realität ließ die Zeit in der anderen Welt stets ablaufen, fing ihn wieder ein, sperrte ihn zurück in ihre Hölle. Dann war es Zeit, nach Hause zurück zu kehren, um dort auszuharren in seelischer und körperlicher Verwüstung. Jedes Mal, bis Jay des Abends wieder das grässlich vertraute Schnarchen seines Vaters vernahm und es wagte, sich erneut aus dem Haus zu stehlen. Jeden Abend wurde er zurückgeführt von den Zwängen seines Lebens. Auf dem Weg nach Hause klammerte er sich fest an die verpuffenden Eindrücke in der Dunkelheit wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz auf hoher See.

So leise wie möglich schlich Jay die knarrende Stiege hinauf, während er unentwegt auf jede Veränderung des Schnarchens seines Vaters lauschte. Um nichts in der Welt durfte er wach werden. Jay hatte es zu oft erleben müssen wie sein Vater in seinem teuflischen Rausch über ihn kam wie das Jüngste Gericht.
Mit bangem Herzen erreichte er schließlich sein Zimmer und dankte Gott, dass er ihn heute Abend verschont hatte. Eigentlich glaubte Jay nicht an einen Gott, doch die Stoßgebete gaben ihm manchmal das Gefühl, ein kleines bisschen weniger alleine zu sein als er tatsächlich war.

Erschöpft ließ Jay sich auf seine Matratze fallen. Eine kleine Staubwolke stob unter seinem Körper hervor. Für einen Moment schloss Jay die Augen, um sich zurück zu denken auf die friedliche Wiese in der klaren Nacht vor seinem Fenster. Mit einem tiefen Atemzug griff er unter sein Bett und zog ein dickes, schäbiges Buch darunter hervor. Mit bedächtigen Fingern schlug er es auf, zog den schwarzen Füller zwischen den zerknitterten Seiten hervor und begann zu schreiben. All seine Eindrücke und Ideen der letzten Stunden flossen durch die schwarze Tinte auf das Papier zu all den anderen unzähligen Gedanken, die Jay in der anderen Welt bereits gedacht hatte. Er sammelte diese Schätze zwischen den beiden Buchdeckeln, über deren Seiten auch in diesem Moment seine Feder kratzte. Doch noch hatte er keine Antwort finden können auf den Sinn seines Lebens, nicht zwischen all den ungezählten Seiten. Also suchte er weiter, Nacht für Nacht, Atemzug für Atemzug.

 

Von der Schwachheit des Herzens

Die Gedanken brausten in ihren Ohren. Sie tobten und überschlugen sich und krachten zusammen wie die harten Wellen der aufgewühlten See zu ihren Füßen. Sie wusste nicht, was richtig war, was falsch war, was sie denken sollte. Der Sturm zerwühlte jede gerade Linie, die sie zu finden glaubte, zerriss jeden Strang, an dem sie sich festhalten wollte. Antworten rollten über Fragen, um sie zu ersticken, doch sie brachten nur tausendfach mehr Ungewissheit mit sich. Was sollte sie tun? Was wollte sie tun? Hier bleiben? Fort gehen? Das Ausmaß der Entscheidung schnürte ihre Kehle zu und lähmte ihren Verstand. Hier bleiben. Ein sicheres Leben haben. Verrosten, verwesen, sterben… Weg gehen, in Unsicherheit um das eigene Leben kämpfen, mit dem Abenteuer leben und erblühen.
Ihr Herz hatte sich entschieden. Doch wollte ihr Verstand nicht wahr haben, was das Herz so verzweifelt in die Wogen schrie. Er verschloss sich dagegen und schleuderte seine Argumente zurück, sodass die zarten Rufe des Herzens daran zerschellten. Sie würde sterben, unwürdig, vergessen von der Welt, abseits vom lebendigen Leben, vielleicht zu früh, vielleicht allein…
Doch ihr Herz wollte leben! Es wollte, dass sie lebte!
Ihr Verstand wollte, dass sie starb. Doch er wusste es nicht.

Weiße Segel erhoben sich in die salzigen Lüfte über den Wogen, der Wind erfasste sie und blähte sie kraftvoll auf, sodass sie in ihrer ganzen Schönheit erstrahlten. Ein Ziehen verkrampfte schmerzhaft ihr Herz. Freiheit. Dort war sie. Direkt vor ihren Augen. Sie schaute hinauf, schaute hinein, musste nur einen Schritt tun, um von ihr erfüllt zu sein. Doch sie ging nicht. Ihr Verstand bewegte ihre Glieder und ihr Herz konnte nichts tun als weinend zuzusehen. Es sah zu, wie die Segel sich lüstern aufbäumten und die alten Balken des Schiffes knarrend den Kräften es Windes nachgaben. Die Wellen leckten spielerisch an den Planken, während das Schiff sich ein wenig wehmütig vom Hafen löste, um voller Enthusiasmus in Freiheit zu stechen.
Da fuhr es hin, den Weg ins Glück. Ihren Weg ins Leben, doch sie hatte ihn verlassen.
Die Menschen standen winkend am Kai und weinten ihren Geliebten nach. Sie stand da und winkte, weinte um ihre Geliebte. Sie weinte und winkte der Freiheit.

 

Eifersucht ist eine Leidenschaft…

… die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Ein Klassiker, der das Wesen dieses Phänomens auf den Punkt bringt. Kaum ein Gefühl kann zermürbender und gleichzeitig überflüssiger sein als die Eifersucht. Ihre Macht kann beachtliche Ausmaße annehmen, ihr Vernichtungspotenzial beängstigend sein. Immer wieder zerschellen Persönlichkeiten und Beziehungen an ihr, häufig unnötiger Weise.

Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Eifersucht ihren guten Grund hat. Häufig spukt sie jedoch als überflüssiger Plagegeist in Beziehungen herum, kann Harmonie in Disharmonie verwandeln und einen Graben der Verwüstung zwischen zwei Menschen treiben.

Doch was passiert eigentlich, wenn das Gefühl der Eifersucht einen zu Unrecht kontrolliert? In solchen Fällen fokussiert man das, was die in den eigenen Augen konkurrierende Person ausmacht, was man selbst jedoch nicht aufweisen kann. Kurzum, man sieht nur die Stärken des anderen sowie die eigenen Mängeln bezüglich dieser Stärken bei sich selbst. Die Schwachpunkte des anderen und die eigenen Vorzüge werden komplett ausgeblendet. Das führt zu einem Vergleich, der nicht nur hinkt, sondern vor vernichtender Ungerechtigkeit geradezu trieft. Der Effekt ist folgender: Während man den anderen in einem fast überirdischen Licht erstrahlend idealisiert, siecht man selbst im Schatten der Selbstverleumdung dahin. Je länger und intensiver dieser Prozess dauert, desto größer wird in den eigenen Augen die Schere zwischen dem anderen und einem selbst. Im Extremfall kann das dadurch erzeugte Gefühl der Unterlegenheit und Wertlosigkeit existenzielle Ausmaße annehmen.

Der Grund für dieses Denken und Fühlen ist simpel: Verfällt man in derartige Denkmuster, so ist dies in einer mangelnden Wahrnehmung und Wertschätzung der eigenen Eigenschaften begründet. Unhinterfragt schreibt man den fokussierten positiven Eigenschaften der anderen Person einen überdimensionalen Wert zu und macht den eigenen Wert davon abhängig.

Die Konsequenzen dieser Erkenntnis sind herausfordernd: Will man dieser quälenden, zerstörerischen Eifersucht den Kampf ansagen, so muss man diese starken Denkmuster durchbrechen. Auf Knopfdruck ist dies jedoch meist nicht möglich, ebenso wenig wie der Vorsatz, sich selbst von nun an mit Liebe und Wertschätzung zu übergießen; der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Deshalb soll es darum nicht gehen. Vielmehr ist es wichtig, den Fokus des eigenen Denkens Stück für Stück und langfristig zu verschieben, damit man sich eines Tages selbstverständlich jeden Tag neu die Achtung und Zuneigung schenken kann, die man braucht. Und das ist nicht unmöglich, sondern vielmehr unbedingt nötig! Selbstliebe und Selbstachtung sind nicht nur unabdingbare Waffen im Kampf gegen das Gefühl der Eifersucht, sondern sogar zentrale Bedingungen für ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben.

Doch was kann man nun konkret tun, wenn man diese Last der Eifersucht loswerden möchte?

  • Mache dir eine Liste mit deinen Vorzügen und Stärken und lies dir jeden Tag bewusst ein paar Punkte daraus durch. Wenn du magst, kannst du die Liste an einem Ort aufhängen, an dem du sie oft siehst, damit sich dir ihr Inhalt besonders effektiv einprägt, denn das ist das Ziel.
  • Verdränge nicht deine Schwachstellen, sondern mache auch sie dir in realistischer Weise bewusst. Bewerte sie jedoch positiv als Teil deiner Individualität.
  • Schätze alle deine Eigenschaften besonders wert.
  • Achte im Alltag auf deine Stärken, wann und wie du sie einsetzt, was du damit bewirkst und wie es sich anfühlt das zu tun. Setze sie anschließend bewusst häufiger ein, so oft du möchtest.
  • Spiele deine Eigenschaften nicht gegen die anderer Menschen aus. Das führt zu nichts. Schätze deine eigene besondere Komposition. Denn genau die kann niemand sonst aufweisen, nur du.
  • Erinnere dich daran, dass der Mensch an deiner Seite sich frei für dich entschieden hat. Er wäre nicht bei dir, wenn du nur zweitklassig für ihn wärst und er eigentlich gar nicht bei dir sein wollte.
  • Versuche, die Person, auf die du eifersüchtig bist, in einem objektiveren Licht zu sehen. Fokussiere dich nicht auf ihre scheinbar überdimensionalen Stärken, sondern sieh ihre Vorzüge und Normalität realistisch und scheue dich nicht, auch ihre Schwächen in den Blick zu nehmen. Hierbei kann es helfen, sich vorzustellen, wie die Person auf einen wirken würde, wenn man sie unbekannter Weise im Alltag träfe oder freundschaftlich kennen lernen würde.
  • Wenn du dich bereit fühlst, überwinde deinen inneren Schweinehund und lerne die betreffende Person tatsächlich in einem geschützten Rahmen kennen, um zu merken, dass auch sie nur ein Mensch ist. Vielleicht sogar einer, mit dem du dich gut verstehst.
  • Überwache dich selbst, damit du dir dessen bewusst bist, wenn du in alte Denkmuster der Eifersuchtsspirale zurück zu fallen drohst. Halte dich dann bewusst davon ab und unterbrich dein Gedankenkarussell.
  • Und egal was dir in deinem Leben noch passieren wird, egal wer dir über den Weg laufen wird, glaub an dich, sei bei dir und kenne deinen ganz persönlichen Wert.

Hastige Rast

Ich muss hasten – will rasten – überlege zu fasten, um mich zu entlasten. Doch was ich tue, ist mich zu belasten mit der Idee vom Rasten.

Ich raste ein. Stehe still – am Ufer des tosenden Meeres meines Lebens. Ich möchte die Arme ausstrecken und es besänftigen, beruhigen – calm down. – Will selbst zur Ruhe kommen. Doch die Wogen tosen und brausen unendlich laut – in mir. Es ist mein Meer, meine Wellen, mein Wiegen, Peitschen, Zerren, Fetzen. – Meine Seele…

Ich bin es, die sie malträtiert, an ihr zerrt, sie verzerrt, herunterzerrt vom Thron meines Lebens, auf dem sie sitzen sollte, in glorreicher Pracht und Blüte des Lebendigen erstrahlen, zart wie der Flügelschlag eines Kolibris, stark wie der Stamm einer Eiche.

Ich schreie nach Ruhe – stumm. – Lausche auf Antwort – taub. – Suche nach Glück – blind. – Kämpfe für Frieden – tatenlos. – Japse nach Luft – atemlos.

STOP.

Stopp, Halt, Ende! Jetzt! Sofort!

Ich halte inne – innig. Doch ich finde mein Inneres nicht. Erahne mich schwankend im Rausch der Zeit – im Rasen des Moments, nicht mehr als ein Schatten. Kaum kann ich mich sehen, mich gar nicht ansehen, mich nicht im Spiegel erkennen. Kenne mich nicht. Blicke in die Augen eines Unbekannten. Frage mich, wie er ist, was ihn bewegt. Ich will es wissen – müsste es wissen. – Weiß es nicht.

Leere – dumpfe Leere – wie unter dem Gaumen eines gähnenden Krokodils. Schnapp. Weg ist die Leere, sogar die Leere. Das Maul ist zu. Geschlossen. Gefangene kleine Leere in seinem Inneren, in mir. Fragen beginnen zu tanzen – Wer bin ich? Bin ich überhaupt jemand? Was macht mich aus? Was tue ich? Wecker ausschalten, aufstehen, frühstücken, arbeiten, zu Mittag essen, arbeiten, zu Abend essen, schlafen. Kommunizieren – über das Wecker ausschalten, Aufstehen, Frühstücken, Arbeiten, Mittagessen, Arbeiten, Abendessen, Schlafen.

Mehr! Ich will mehr! Ich muss mehr sein! Ich merke, ich bin mehr. Habe ein Mehr – erinnere mich an mein Meer. Tosend in meinem Inneren, meinem Innersten. Ich kann es sein – das Meer – kann mehr sein – Wenn ich es bin.

Ich lasse es zu, zu sein. Verwüstet, rastlos, friedlos, freudlos, verzweifelt – ängstlich. – Sie glätten sich, die Wogen. Licht durchbricht die Finsternis in meinem Herzen, Klarheit flutet mein Herz. Ich tauche ein, tauche ab in mein Meer, in mein Sein, genieße die Ruhe, wiege mich in Frieden, lausche meiner Stimme, halte inne im Glück, atme. Tief. Mein Sein. Ich raste.